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Letzter Abend in Livadia auf der Insel Serifos. Elisabeth kommt von einem ihrer vielen Spaziergänge mit Pia zurück und verkündet: "Hier gibt´s einen Bergsee!". Nicht möglich, wo soll der sein? Ein Süßwassersee auf diesen kargen Inseln wäre eine Sensation - das musste eine Bucht oder etwas ähnliches sein, widersprach ich bockig. Wenn du´s mir nicht glauben willst, musst du eben selbst nachschauen, meinte meine Gattin etwas säuerlich ob meines Unglaubens (dabei bin ich doch alleine schon durch meinen Namen geradezu zum Unglauben prädestiniert). Der Abend"spaziergang" ging also mehrere hundert Höhenmeter hoch auf die Berge, in deren Mitte Elisabeth aus der Ferne den See gesehen hatte. Des Rätsels Lösung: eine sehr tief eingeschnittene Bucht - sieht aber wirklich wie ein Bergsee aus, wie ich zugeben musste. Also hatten wir beide irgendwie recht und milde Übereinstimmung konnte sich wieder besänftigend über unseren Ehefrieden legen...

 

Mericha, Insel Kythnos, 25. September 2005

 

Die Wettervorhersage verhieß milde Winde, keine Welle und leichteste Bewölkung. Also verließen wir am 23. den eigentlich ganz netten Hafen Livadia an der Südspitze der Insel Serifos. Als wir uns auf dem Weg nach Kythnos der Nordspitze näherten, hatte sich über Serifos bis hinüber zur Insel Sifnos ein schweres Gewitter zusammen geballt. Genau da, wo wir unseren völlig unvorhergesehenen Sturm wenige Tage zuvor erlebt hatten. Wir sind geneigt, das Seegebiet zwischen diesen Inseln als gemeingefährliche "Wetterküche" einzustufen, in der sich augenscheinlich permanent von der allgemeinen Wetterlage völlig unabhängige Hexenkessel zusammenbrauen.

Wären wir eine Stunde später ausgelaufen, wären wir mitten im Geschehen gesteckt. So aber hatten wir das angesagte freundliche Wetter vor dem Bug und beobachteten mit gemischten Gefühlen, wie sich wenige Seemeilen hinter unserem Heck ein schweres Gewitter mit Blitz und Donner entlud. Auch um uns war das Geschehen am Himmel mächtig in Bewegung:
Bilder oben von rechts nach links: an den Ausläufern der Gewitterfront türmten sich riesige Haufenwolken (1), auch vor uns bildete sich kurz über der Insel Kythnos ein klassischer "Gewitterambos", der sich jedoch zu unserer Erleichterung bald wieder auflöste (2+3). Meist bilden sich Haufenwolken über den Inseln oder der Festlandsküste, wobei oft auch das kleinste Felseninselchen noch sein Wolkenhäubchen abbekommt (4)

 

Nach einer insgesamt recht geruhsamen Fahrt, die wir nach den Unbilden, die hinter uns lagen, sehr genossen auch wenn kein Segeln möglich war, liefen wir dann in den kleinen Hafen Mericha im Norden der Insel Kythnos ein. Der Hafen weist hohe Wassertiefen auf und da wir völlig alleine im Hafen waren, legten wir uns erst einmal längsseits, bis wir von einem Officer der Port Authority gebeten wurden, uns auf die Seite des Hafenpiers zu legen, wenn wir schon längsseits bleiben wollten. Kein Problem - nach wenigen Minuten waren die Leinen noch einmal eingeholt, abgelegt und in einem engen Bogen steuerte ich die Unity ans seitliche Pier. Der Sinn der Aktion wurde uns später klar: Kythnos liegt bereits so nahe an Athen (55 Seemeilen), dass hier allabendlich ein Schwarm größerer Motor- und Charteryachten für einen Zwischenstopp auf dem Weg in die Kykladen einfällt. Spätestens um die Mittagszeit ist der Spuk dann wieder vorbei, bis gegen Abend der nächste "Schub" einläuft.

Mericha selbst ist ein sehr friedlicher, verschlafener Ort mit einem (tagsüber) verschlafenen Pier, verschlafenen Tavernas, verschlafenen Supermärkten, verschlafenen Fischerbooten. Selbst die Hafenbucht liegt wie ein verschlafener Dorfweiher vor dem Uferweg. Dafür weist der Ort eine bemerkenswerte Abweichung zu anderen griechischen Orten auf: keine Kirche, nicht das klitzekleinste Kapellchen taucht im Ortsbild auf - Mericha hat augenscheinlich selbst die orthodoxe Christianisierung Griechenlands verschlafen ..... :
Da die Wetterdienste plötzlich ebenfalls (einen Tag nach uns) Gewitter in dieser Gegend ausgemacht hatten und diese gleich für die nächsten zwei Tage prognostizierten, beschlossen wir, diese beiden Tage hier zu bleiben. Sicher längsseits am Pier, ein allgemein zugänglicher Wasserhahn ist auch da, unser Stromgenerator stört tagsüber auch niemanden. Ansonsten gibt´s genügend Arbeiten zu erledigen, es wird mit Lust und Laune gekocht und die Kalorien werden dann beim ausgedehnten Abendspaziergang auch wieder "abgearbeitet".

Wenn man so über die Insel wandert und den zahlreichen Fähren beim Ein- und Auslaufen durch die tief eingeschnittene Einfahrt der Bucht zuschaut, erzählt man sich wohl auch diesen oder jenen Schwank aus der Jugendzeit, also setze ich ans Ende dieses Logbuchs auch mal einen solchen:

 

Ingo war der Freund von Freunden und dadurch auch ein wenig mein Freund. Ich konnte ihn ganz gut leiden und es verband uns immerhin, dass wir beide aus schwäbischen Pfarrfamilien stammten. Ingo hatte stets Jesuslatschen an den Füßen, eine hanfene Hirtentasche umhängen, einen Jesus-Bart, eine Jesus-Haarmähne und auch sein Gesicht hätte in jedem Jesusfilm ganz authentisch gewirkt, da Ingo zu asketisch-vegetabiler Lebensweise und zu sanftem Fanatismus in seinen Grundüberzeugungen neigte. Als Ingo uns in einem Sommer vor vielen Jahren half, das Dach unseres kurz zuvor erworbenen Bauernhauses zu renovieren, saß er allfrühmorgendlich hoch oben auf einem Stapel Dachbalken, der im Hof vor dem Haus seiner Verwertung harrte und begrüßte die aufgehende Sonne. Nur mit einem kurzen Höschen begleitet, im Lotussitz, die Hände in Meditationsstellung mit den Handflächen nach oben vor sich auf den Oberschenkeln der gekreuzten Beine. Ommmmm. Die Landwirte der umliegenden Höfe begrüßten ebenfalls die aufgehende Sonne, nur dass sie dies erledigten, während sie eine Fuhre Mist ausbrachten oder mit dem Mähgerät vor dem Traktor und einem angehängten Selbstladewagen Grünfutter für ihre Rindviecher von den umliegenden Wiesen mähten. Jedenfalls waren auch sie schon unterwegs und hatten, wenn sie unseren Hof passierten immer wieder ihre Freude daran, einen "echten Guru" in der fränkischen Provinz auf freier Wildbahn beobachten zu können. Meine damalige Freundin fand Ingo so "klasse", dass ich mich zuweilen zu sorgsam verborgenen Schüben von Eifersucht genötigt fand.

Wenn Ingo nicht auf unserem Dach arbeitete, besetzte er leerstehende Kasernen, engagierte sich politisch bei der äußersten Linken und studierte nebenbei Ethnologie. Letzteres war, neben seiner Hilfsbereitschaft, auch der Grund, warum er bei uns auf dem Dach saß und Sparren festklopfte. Da gab es nämlich die Geschichte mit den Hopi-Indianern, kurz "Hopies". Ingo war zutiefst davon überzeugt, dass er diesen vom Aussterben bedrohten Ureinwohnern Amerikas hilfreich beispringen müsse. Und weil die Hopies ja nicht ewig in abgenutzten Zelten kampieren konnten, sondern sicherlich ein festes Dach über dem Kopf brauchten, begrüßte Ingo unsere Hausrenovierung als willkommene Möglichkeit, seine Fertigkeiten für die beabsichtigte Hopi-Hilfe zu erweitern. Die Bauleitung bei unseren Aktivitäten hatte ein junger Zimmermannslehrling aus der Nachbarschaft übernommen, der von allen nur "der Schlack" genannt wurde. Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt von fast allen für eine Dachrenovierung benötigten Fertigkeiten nur sehr verschwommene Vorstellungen, was sich nach Beendigung aller Arbeiten nicht entscheidend geändert hat. Also arbeiteten außer uns und ein paar anderen Freunden nun Ingo, der askethisch-vergeistigte Ethnologe, und der vierschrötige Schlack Seit an Seit miteinander auf unserem Dach. Überraschender weise ergab sich daraus der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Thilo löcherte den Schlack mit tausend Fragen, was dem Schlack die ohnehin voluminöse Brust vor Stolz noch weiter schwellen ließ. Diese Schwellung wurde noch weiter verstärkt durch die Tatsache, dass alle Bewohner der Umgebung "den Guru" irgendwann in der Morgensonne bewundert hatten, sehr neugierig auf erhellende Details waren und der Schlack diese Neugier anlässlich des alldonnerstäglichen Schafkopfspiels vor der Dorfkneipe in epischer Breite bedienen konnte.

So lernte Ingo etwas über das Zimmermannshandwerk und der Schlack was über die Hopies. Das Ergebnis war, dass unser Haus am Ende jenes Sommers ein schmuckes neues Dach hatte, Ingo in all den Jahren seither nie wieder ein Dach baute (schon gar nicht für die Hopies) und der Schlack die Hopies vermutlich bald wieder vergaß, seinen mittlerweile von ihm und seiner Gattin in die Welt gesetzten Kindern aber sicher noch etwas von Ingo erzählt, wenn sie beim Sonntagsspaziergang zufällig an unserem Haus vorbei flanieren. Meine Freundin Biggi wurde übrigens, als wir uns längst wieder in freundlichem Einvernehmen getrennt hatten, im Laufe der Jahre eine überzeugte Esotherikerin und verbrachte ausgedehnte Urlaube auf Bali. Seit einigen Jahren ist sie, ganz im Stil der Zeit, eine alleinerziehende Mutter - und verbringt die Urlaube mit ihrem Töchterchen auf einer griechischen Insel.

Wenn ich heute zuweilen Äußerungen wohlmeinender Akademiker zum Thema "Griechenland" höre, muss ich an Ingo denken. Nicht dass die Griechen einen Ethnologen bräuchten, der ihnen einen Dachstuhl zimmert. Das erledigen sie, nicht immer schön, aber zweckmäßig mit Stahlbeton in erdbebensicherer Skelettbauweise. Aber die Einstellung oben erwähnter Akademiker zum Thema Griechenland ähnelt der eines Ornithologen zu einer vom Aussterben bedrohten Finkenart im peruanischen Hochland - oder eben den Sympathien Ingos für "seine" Hopies. Dass "die Griechen" mittlerweile nicht nur bei der Konstruktion ihrer Dächer mit Stahlbeton arbeiten, sondern auch ansonsten recht solide ihre Interessen zu vertreten wissen und daher in keiner Hinsicht vom Aussterben bedroht sind, scheint sich interessanter Weise noch nicht so richtig herumgesprochen zu haben. Also führen die Griechen in den Köpfen der nordischen Graecophilen noch immer die Existenz eines Hopi-Indianers, was ihnen ganz gut zu Pass kommen dürfte. Sowohl bei Subventionsanträgen an die europäische Gemeinschaft oder einer üppigen Steigerung der Preise im touristischen Dienstleistungsgewerbe steht zu vermuten, dass ein Hopi-Bonus mancherlei erleichtert. Die "echten" Hopies sterben einstweilen weiterhin aus und Ingo ist mittlerweile Abteilungsleiter eines Völkerkundemuseums im Schwäbischen. Das Bauernhaus in Franken wurde vor einigen Jahren an ein Ehepaar verkauft, das mit einem "Pyramiden-" oder auch "Schneeballsystem" genannten Gewerbe Aloe-Vera-Produkte vertreibt, für den Kauf des Hauses eine saftige Hypothek aufnahm und nicht ahnt, dass das Dach ihres Hauses zu einem Teil den Vorbereitungen zu einer Hopi-Rettungsaktion zu danken ist. Ingo dürfte wiederum etwas verdutzt sein, wenn früher oder später die Euros, die er im Museum verdient, etwas weniger wert sind, weil die griechischen Hopies mit großer Begeisterung ihre Privathaushalte völlig überschulden - was aber ohnehin von führenden Ethnologen als böswillige Unterstellung dementiert wird ......

 

Abendhimmel über der Mericha-Bucht