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Die "Golden Wind" sticht in See, vorbei an den mächtigen Felsscharten östlich der Hafenbucht von Psara.

 

Marmaro-Bucht (Insel Chios), 01. Juli 2005

 

Am 28. Juni war das Ende des aktuellen Meltemi absehbar und der erste Frühstarter verließ den geschützten Hafen von Psara - nur um festzustellen, dass eine Schwalbe eben doch noch keinen Sommer macht: Via Handy gab er abends zu Protokoll, dass, wie vom Wetterdienst prognostiziert, draußen zwar keine allzu hohe Welle mehr stand, aber heftige Starkwinde das Schiff gebeutelt hatten. Am 29. begannen die Winde endgültig zu drehen und alle wurden ungeduldig, auch Johannes von der Golden Wind (s. vorhergehendes Logbuch "Psara"). Also entschloss er sich am Nachmittag spontan, doch noch auszulaufen. Zwar hatte er den Wind von achtern, aber für sein kleines 7-Meter-Boot war die nachmittägliche Welle dann doch recht "bewegend": Wir beobachteten vom Gipfel der Südklippe aus, wie sich Golden Wind heftig schaukelnd ihren Weg gen Süden bahnte. Bei vielen anderen hätte ich auf "Blödsinn" plädiert, aber Johannes ist ein erfahrener Segler - er wird wissen, was er sich, seiner Dorothée und dem Boot zumuten kann. Wir (und die Mehrheit der Segler im Hafen) warteten lieber den nächsten Tag ab.

Aber am nächsten Morgen gab´s kein Halten mehr: einige Boote hatten den Hafen bereits verlassen, als wir aufstanden. Um 10:00 Uhr verließen auch wir mit den letzten beiden Booten den Hafen in Richtung Westen. Wir hatten nur einen mittleren "Schlag" von ca. 28 Seemeilen vor uns. Anfangs konnten wir mit einem frischen Nordwest die Segel setzen, allerdings wurde der Wind, je mehr wir uns der Südostecke Psaras näherten, immer stärker - wahrscheinlich eine "Düse" zwischen Psara und Chios, die uns auf Kutterfock und Besansegel reffen ließ. Ziemlich genau zwischen den Inseln schlief der Wind ein. Was jedoch nicht bedeutete dass die Verhältnisse nun zu "still ruht der (die) See" wechselten: durch die Drehung des Windes hatten sich Wellen aus verschiedensten Richtungen aufgebaut, sodass wir den Rest des Weges durch eine "hackige" Kreuzsee motoren mussten.

Wir lassen die Ostküste von Psara mit ihren schroffen Felsklippen hinter uns

 

Wir bedauerten unseren Entschluss, Psara verlassen zu haben, trotzdem nicht: Am Wochenende sollte ein Fest zu Ehren von Kapitän Canaris stattfinden. Und wo Griechen feiern, wird es LAUT. Wir wären längsseits am Hauptplatz der Schallerzeugung gelegen, was vermutlich ein mehrtägiges Martyrium zur Folge gehabt hätte: Elektronische Schallverstärkung richtet in Griechenland in unseren Augen Verheerendes an. Ein Land, das noch immer das Image von Stille - sei es in archaischer Erhabenheit, sei es an weit geschwungenen Küsten und Stränden - hat, müllt sich, nachdem die Abwasserentsorgung an vielen Orten im wahrsten Sinn des Wortes geklärt scheint und bei der Müllentsorgung sichtbare Anstrengungen im Gange sind, nun eben akustisch ein. Kaum ein Hafen, wie klein er auch sein mag, in dem sich nicht am Hafenboulevard ein Techno-Schuppen etabliert hat, untermalt wird die Kulisse mit lautest-möglich aufgerüsteten und mit aggressivem Fahrstil entsprechend zur Geltung gebrachten Mopeds und Motorrädern. Aber "laut" scheint ohnehin der fast einzige Dezibel-Standart zu sein, der in Griechenland etabliert ist: Wer mit den allgegenwärtigen Handies telefoniert, tut dies in einer Lautstärke, mit der er zwei Kilometer im Umkreis auch ohne technischen Aufwand mühelos jeden Gesprächspartner akustisch erreichen könnte. Wenn wir abends eine Taverna besuchen, tun wir dies bewusst um ca. 19 Uhr - wenn sich das Lokal zur ortsüblichen Zeit um 21 Uhr mit Einheimischen füllt, ist nach kurzer Zeit keine Unterhaltung mehr möglich. Die Lautstärke steigt (selbst im Freien) innerhalb kürzester Zeit auf das (ohne Übertreibung!) ca. Vierfache eines vollbesetzten deutschen Restaurants mit dem Vierfachen an Besuchern. Rein rechnerisch ergibt das im Minimum ein Sechzehnfaches dessen, was wir an Lautstärke gewohnt sind. Es ist ohrenbetäubend! Mein Mittelohr, das ja auch für den Gleichgewichtssinn zuständig ist, macht auf dem Meer jede Welle und jedes Geschaukel stunden- und tagelang ohne auch nur den Anflug einer Seekrankheit mit. Die Lärmattacke einer griechischen Taverna quittiert es jedoch leider mit Schwindel- und, daraus resultierend, Übelkeitsgefühlen. Ein fröhliches griechisches Fest in Psara, wenige Meter neben unserem Boot, hätte ich daher höchstens mit Ohrstöpseln durchleiden können.....

Opfer der jüngsten Meltemi-Stürme: Ein Frachter, der an den Untiefen der Nordwestecke von Chios gescheitert ist - wir passierten in Achtungsabstand...

 

Da während der zweiten Hälfte unserer Überfahrt nach Psara nicht mehr gesegelt werden konnte, warf ich zwischen Navigationsaufgaben und Ausguck einen Blick in ein Buch über Bewusstseinsforschung. Beim Studium dessen, was dazu von Wissenschaftlern abgesondert wird, ging mir wieder einmal eines meiner Lieblingszitate durch den Sinn: "Einen Bauern, der das Leben und seine Bibel kennt, kann man als gebildeten Menschen bezeichnen - was man von einem Wissenschaftler, der nur die Breite seines Fachgebiets kennt, nicht behaupten kann.". Ich zitiere einfach die Aussage einer, wie der Autor ausdrücklich betont, sehr attraktiven Forscherin aus Leibzsch (kein Tippfehler): "In meinen Augen ist es die Syntax, die die menschliche Sprache von anderen Kommunikationssystemen unterscheidet. Aber gerade die ist doch hoch automatisch und damit völlig unbewusst. Wenn wir jetzt sagen, der Mensch hat ein besonderes Bewusstsein, weil er Sprache benutzt, und das entscheidende Merkmal menschlicher Sprache ist unbewusst, dann stimmt da doch irgendwas nicht." Zitat Ende. Was schwirmelt mir Frau Frederici da vor? Weil wir beim Vorgang des Gehens automatisch und ohne besonders nachzudenken, einen Fuß vor den anderen setzen, ist es, wissenschaftlich gedacht, unmöglich, zu Fuß ein Theater, ein Konzert oder sonst eine kulturelle Veranstaltung bewusst zu erreichen..... Man kann auch wissenschaftliche Probleme künstlich generieren. Manchmal habe ich geradezu den Eindruck, dass eine ganze Zunft nicht unwesentlich davon lebt. - Oder sollte ich da etwas essentiell falsch verstanden haben?

Das Wort "Bewusstsein" entstammt ja deutlich dem Wort "Wissen". Ich denke, wer so viel Wissen gesammelt hat, dass er fachlich, geistig und mental zu der Erkenntnis gelangt "ich weiß (vielleicht reicht ja schon "ich ahne"), das ich nichts weiß", dem kann, sehr wohl ein gewisser Grad von Bewusstsein zugesprochen werden. Allerdings ist dieser Grad des Be-wissens, je weiter er fortschreitet, ein entsetzlicher Abgrund für einen wie auch immer gearteten Seelenfrieden: Wenn ich einmal erkannt habe, dass ich niemals etwas wirklich wissen, mir damit niemals unzweifelhaft gewiss sein kann, eben weil "alles relativ" ist, lebe ich plötzlich in einem Geisterland, einem schwebenden Alptraum. Wo ich aus der Erkenntnis meines (Un-)Wissens heraus von allem und jedem annehmen muss, dass es sich bei näherem Hinschauen als etwas völlig anderes oder nur als unhaltbarer Schatten erweist, der sich jedem Zugriff entzieht, wandelt sich mein Leben zu einem von Zombies bevölkerten Horrorfilm. Reagieren deshalb so viele Menschen, vermutlich aus einer unreflektierten Instinktivität heraus mit fast panischen Fluchtbewegungen, sobald ein Gespräch auf geistige Belange zu sprechen kommt? Wurden deshalb so lange Menschen, die in ihrem Nachdenken sanktionierte Pfade verließen, von der "Heiligen Inquisition" verfolgt, gefoltert und verbrannt? (Nebenbei bemerkt: "Ratzi"-Benedikt ist der legitime Chef dieser schönen (nur umbenannten) Institution in unseren Tagen). Ist es diese Angst vor dem kreischenden Chaos, dem schreienden Nichts, die noch heute Denkverbote in verschiedenster Richtung wirksam werden lässt, bevor sie noch von irgend einer Autorität gefordert werden? Steckt dahinter gar eine Art archaischer Selbsterhaltungstrieb, der erst mühsam überwunden sein will, wie ich es in meiner (durchaus als Parabel gemeinten) Erzählung "Freiflug" beschrieben habe? Vielleicht ist der oft zitierte, vermutlich selten verstandene, Satz des Sokrates das Tor zu einer Welt voller furchteinflößender Unwägbarkeiten. Wir werden es trotzdem aufstoßen müssen - und sei es, damit wir wenigstens damit beginnen können, die richtigen Fragen zu stellen .....

Inzwischen sind wir in der Marmara-Bucht auf der Nordseite der Insel Chios angelangt. Es gibt hier einen einigermaßen sicheren Hafen mit Wasser direkt am Pier und einen freundlichen Officer der Port Authority. Es bereitete mir mal wieder eine diebische Freude, ihm, als er uns ein Registrierungsformular der Hafenbehörde auf´s Schiff reichen wollte, umgehend ein solches Formular fertig ausgefüllt und ausgedruckt aus meiner Dokumententasche zücken zu können, was immer noch Eindruck macht: Ich habe mir bereits im letzten Jahr ein offizielles Formular eingescannt, im Computer mit allen Daten von Schiff und Crew ausgefüllt und genügend Exemplare ausgedruckt, um dem griechischen Amtsschimmel mühelos "Zucker" geben zu können, wenn er denn mal wiehern sollte. Zwei Segler unserer "Psara-Meltemi-Gemeinschaft" waren gestern mit uns eingelaufen, sind heute aber weitergezogen, sodass wir erst mal alleine am Steg lagen. Wir bleiben noch einen Tag und haben den Wasseranschluss neben dem Boot genutzt, um möglichst wassersparend, aber dennoch gründlich, unsere Unity von dem vielen Staub und Sand zu befreien, den der ablandige Starkwind am Pier in Psara sieben Tage lang ununterbrochen aufs und ins Boot geweht hat.

Bemerkenswert an dem winzigen Örtchen hier ist vielleicht, dass es eigentlich aus zwei kleinen Ortschaften mit eigener (jeweils imposanter) Kirche und bescheidener Infrastruktur besteht, es aber offensichtlich für keines der beiden Örtchen zu einem Namen gereicht hat - so sehr wir auch unsere Karten befragten. Dies hier ist eben die Marmaro-Bucht - und nebenbei stehen noch zwei, am Ufer bereits zusammengewachsene, Dörflein "herum".