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Kalamata, 13. Januar 2005

 

Unsere tägliche Kunstgalerie - an den alten Lagergebäuden des Hafenviertels, das wir fast täglich auf dem Weg in den Park und zur Innenstadt durchqueren, verewigen sich die hoffnungsvollen Nachwuchskünstler Kalamatas. Auch wenn es bei den meisten am Ende wohl doch nur zum Anstreicher reichen wird - manche der "Tags" haben durchaus ihre Qualitäten, wobei das Übereinander verschiedener Schichten oft schon etwas von erweitertem "Informel" hat. Hier ein paar Schnappschüsse.

Der innig geliebte Sohn stirbt in jungen Jahren, der treusorgende Familienvater wäre noch so dringend gebraucht worden, wurde jedoch "abberufen". Und dann fällt oft ein Satz, der mir seit vielen Jahren unangenehm aufstößt: "Wie konnte Gott das zulassen?". Dass der Filius wie ein Hirnamputierter mit dem Moped durch die Gegend raste, der Papi sich die tägliche Schweinshaxe mit reichlich Bier und danach einem Verdauungsschnaps auch nach dringender Intervention des Hausarztes nicht verbieten lassen wollte (von den Zigaretten ganz zu schweigen) - davon wird bei solchen Gelegenheiten nichts erwähnt.

In diesem Frühjahr stach ein deutscher Segler, der an unserem Steg gelegen war, Richtung Malta in See. Peter (SY Cats), langjährig erfahrener Segler, der durch seine Kurzwellen-Runde gut informiert ist und ich mit meinen detaillierten Wetterinfos aus dem Internet warnten eindringlich: ein Tief mit Stürmen bis 10 Bft stand an. Half alles nichts - der jungenhafte Familienvater Mitte Dreißig startete zusammen mit drei anderen Familienvätern ..... voll ins Desaster. Mitten auf dem Ionischen Meer schlugen ihnen die Wellen fast das Neunmeter-Bötchen zu Totalschrott. Eingedrücktes Steckschot, zerschlagene Reling etc. Dabei konnten die forschen Hobbysegler noch froh sein, dass sie mit dem Leben davongekommen waren und sich an die Küste Siziliens retten konnten. Ansonsten hätten wieder vier junge Familien klagen können "wie Gott das zulassen konnte". Der Skipper berichtete dann noch treuherzig, dass er in der ersten Kirche, die er entern konnte, eine Kerze entzündet habe, obwohl er sonst "nicht sonderlich religiös" sei. HIMMEL!

"Gott" in der verkitschten, personalisierten Form, wie "ER" immer noch von den Kanzeln der "christlichen Welt" herabgepredigt wird, gibt es so nach der Meinung vieler nachdenklicher, aufgeklärter Menschen nicht und deshalb kann er auch nichts zulassen und das Kerzlein kann man sich ebenfalls an den metaphorischen Hut stecken. Hätte der Skipper sein von "Gott" verliehenes Hirn bei der Törnplanung gebraucht, wäre das erleuchtender gewesen als sein halbherziges Kerzlein. Was die Kirchen mit ihrem veralteten Gottesbegriff, der aus der Zeit finstersten Analphabetentums stammt, im Bewusstsein unserer Gesellschaft anrichten, dafür gehört so mancher Pastor, der das aus Bequemlichkeit, Dummheit oder Opportunismus noch immer wöchentlich über die immer kleiner werdende Gemeinde auskippt, einer so peinlichen Befragung unterzogen, dass er Besserung schwört oder sein Amt wegen nachgewiesener Insiffizienz abgibt. Dass sich der größte Teil der Bevölkerung den all-sonntäglichen Stuss nicht mehr anhören mag, und dann spirituell führungslos durchs Leben wackelt - das gehört zu einem Gutteil auf das Konto dieses empörenden Missstands. "Gott" ist uns zu doof, also haben wir das Wissen um eine "höhere" Macht, die "über aller menschlichen Vernunft ist", gleich ganz in den Mülleimer gekippt. Der Eine fährt dann mutwillig bei Sturmwarnung fast in den Tod, der Andere macht als Staatsmann oder Manager gleich die halbe Welt kaputt, weil er sich an keinen Maßstab mehr gebunden weiß. Wem nicht klar wird, dass wir wieder verbindliche ethische Regeln in unserer Gesellschaft etablieren müssen, die eine allumfassende Kraft (und die Achtung vor ihr) einschließen, der verschwendet anscheinend keinen Halbgedanken an die tieferen Ursachen vieler Entwicklungen, deren oberflächliche Symptome heute lauthals beklagt werden, deren letztendliche Ursachen aber anscheinend niemand bis zur letzten Konsequenz durchdenken mag. Das Fazit meiner persönlichen Überlegungen lautet ganz knapp: "Gott" ist stark renovierungsbedürftig und da die Kirchen über Jahrhunderte geschlafen und geschlampt haben, steht nun eben eine "Totalsanierung" an. Das verhält sich nicht anders als bei einem vergammelten Haus, Auto oder Gebiss. Nur dass wir einen "runderneuerten", zeitgemäß aktualisierten Gottesbegriff (und alle darauf aufbauenden und damit verbundenen Lehren) ganz sicher dringender benötigen, als ein noch schnelleres Automodell oder strahlende Gebisskronen.
Und nun "Tsunami". DAS ELEND! DIE VERHEERUNGEN!! DIE TOTEN!!! DIE VERLETZTEN!!!! schreit es aus allen Medien. Ganz leise wird da und dort von profilierten Fachleuten nüchtern konstatiert, dass die Ursachen der Katastrophe größtenteils "hausgemacht" sind: Kein auch nur ausreichendes Vorwarnsystem, obwohl dies längst technisch möglich wäre. Wo Informationen über Vorwarnungen da waren, wurden sie nicht angewandt, um die Touristen nicht zu verstören. Hotels und Ferienanlagen wurden viel zu nah an die Küste gebaut, damit die fußkranken Gäste auch ja keinen Schritt zu weit laufen müssen. Ignoranz, Hybris, Profitgier, Schlamperei - warum konnte Gott das zulassen? - Ein makabrer Witz. Dass die meisten der Opfer noch leben könnten, wenn wenigstens rechtzeitig gewarnt worden wäre, diese Nachricht wird so gut es geht unter den Teppich gekehrt - der Volkszorn würde sich sonst wohl wie ein zweiter Tsunami entladen.

Als in Japan vor wenigen Jahren die Stadt Kobe durch ein Erdbeben fast vollständig zerstört wurde, war zu lesen (nicht in der "BILD"-Zeitung...), dass, würde das Gleiche mit der ungleich wichtigeren und größeren Stadt Tokio passieren, der weltweite Kapitalmarkt fast zeitgleich mit den Hochhäusern von Tokio kollabieren würde - weil ein Großteil der umfangreichen japanischen Geldanlagen umgehend aus den Weltmärkten abgezogen würde - mit verheerenden Folgen. Nun - Tokio liegt direkt neben einer der aktivsten Verwerfungslinien der Erde. Das Desaster und seine weltweiten Auswirkungen können jede Sekunde stattfinden. Ist es dann "Gottes Wille", wenn Sie im Strudel der folgenden Weltwirtschaftskrise Ihren Job verlieren, Ihr Haus, Ihr Auto, Ihr gesellschaftliches Ansehen, die Achtung Ihrer Familie? NEIN - es ist die Hybris einiger Menschen, die in vollstem Wissen um die Gefahren genau auf ein Verwerfungsgebiet eine Mega-City bauen müssen. Von "Gott" stammt nur die wunderbare Erde, deren Landmassen eben etwas verschieblich sein müssen, da uns sonst alles wegen einem sich aufbauenden Überdruck um die Ohren fliegen würde. Die beim Beispiel Tokios anfallende Katastrophe wäre zu einhundert Prozent menschengemacht. In diesem Fall von Menschen, in deren Mentalität und Tradition das fatalistische Annehmen von "Karma" noch eine enorme Rolle spielt und es noch vor wenigen Jahren als Vorrecht galt, rituell "Seppuku" zu begehen (in Europa besser bekannt als "Harakiri"), ergo - eine Lebenseinstellung, die in vielen Bereichen der unseren doch sehr fremd ist, die aber wiederum viele unserer Verhaltensweisen ebenfalls als völlig barbarisch empfindet. Tokio empfängt sein Karma im Massen-Seppuku und die halbe Welt rutscht mit in den Abgrund.... -  Die Welt ist zu klein geworden, um sich nicht für solche Zusammenhänge zu interessieren.

Dass dies auch für viele andere "Katastrophen" gilt, die kein direktes Naturereignis zur Ursache haben, dürfte klar sein. Es ist so verdammt wohlfeil, herum zu dilettieren "bis zum Anschlag" und dann blöde wie ein Fünfjähriger, der Papis Uhr mit dem Hammer "repariert" hat, aus der Wäsche zu glotzen, wenn etwas passiert. Das Wichtigste, was es aus einem Naturereignis wie dem jüngsten Tsunami zu lernen gibt, ist in meinen Augen, sich wieder bewusst zu werden, dass die verheerendsten Katastrophen aus menschlicher Hybris resultieren und dass der Mensch vor Mechanismen die er in keiner Weise beherrscht, und denen er den Sammelbegriff "Gott" verpasste, ein ziemlich lächerlicher Wicht ist, der sich bis in die feinsten Strukturen seines Denkens und Entscheidens bewusst werden sollte, dass ihm zu tiefste Achtung vor einem alles umfassenden Prinzip, das er weder versteht noch gar beherrscht, wohl ansteht. In diesem Sinn ist auch entschiedener und energischer Widerstand gegen unmoralische und dilettierende Politiker und Manager ein dringendes Gebot der Stunde. Ihre Fehlentscheidungen kosten jährlich viel mehr Existenzen und Menschenleben als jeder Tsunami. In diesem Sinne ganz herzliche Grüße an alle Mitstreiter von ATTAC und alle Menschen, die sich in anderen Organisationen oder unabhängig davon für Verantwortung, ethisches Handeln und Gemeinsinn einsetzen.

Gegen den farblichen Wahnsinn, der hier jeden Abend als "Sonnenuntergang" daherkommt, verblasst jedes Graffity...

 

P.S.: Es war nachgerade bemerkenswert, wie wenig das Thema "Tsunami" hier im Hafen unter den Langfahrtseglern für Gesprächsstoff sorgte (Tendenz gegen "Null"), obwohl es uns als "See-Leute" ja eigentlich sehr direkt angeht. Wir gehen während des Sommers viele Male, manchmal täglich, "raus" auf´s Meer und jeder hatte in seinem Seglerleben schon mindestens ein Mal eine Situation, in der ihm das Meer zeigte, wo die "Grenzen des Machbaren" liegen. Im Normalfall begehen wir unsere Abenteuer jedoch nach sorgfältiger Information, Kalkulation und Planung und mit sicherem Wissen darüber, was wir uns und unserem Schiff zutrauen können. Was bei dem jüngsten Tsunami passierte, empfinden nach meiner Vermutung viele als ähnlich peinlich, wie den Beinaheschiffbruch des leichtsinnigen Malta-Seglers (s.o.). Motto: Reden wir besser nicht darüber und spenden im Stillen, was wir meinen erübrigen zu können, für die Opfer. Eine Kerze hat nach meinem Wissen keiner angezündet.....