Diary-Übersicht Top Art "News"

 

30. Oktober 2006

Das gestalterische Wiesel

oder: Kunst ist (zuweilen), wenn´s nicht stimmt....

Darf Kunst irritieren, oder soll sie das sogar? Eine Streitfrage, der viele Kunstinteressierte zuweilen eher ambivalent gegenüber stehen - und dabei will ich mich selbst gar nicht ausnehmen. Im Band "StillLeben" der Reihe "Abenteuer Aquarell" gibt es nun ein Motiv, das nicht nur dadurch irritieren könnte, dass das Hauptmotiv gar nicht "wirklich" im Bild ist - ein gestalterischer "Krimi":
 

Situation: ein Bootssteg, im Wasser vor dem Steg spiegelt sich ein Boot, das ansonsten nicht im Bild ist, auf dem Wasser treiben zusätzlich ein paar Blätter. Was ist "wirklich" - was nicht? Die Zutaten, also der Steg und die Blätter sind "wirklich" im Bild. Das "eigentliche" Hauptmotiv glänzt durch Abwesenheit und ist doch prominent im Bild vertreten. Ich habe das Spiel weitergespielt: vom Festmacherring am Steg gehen zwei Leinenhälften nach rechts und links zum Bildrand. Noch zwei Boote? Wahrscheinlich, auch wenn nur noch die Leinenteile auf ihre Existenz rechts und links am Steg hinweisen. Und dann kommt da noch die Spiegelung der Festmacherleine des Boots - die aber wie die Spiegelung des Boots kein "wirkliches Pendant im Bildraum hat. So präzise das Bild in all seinen Details gestaltet ist, so sehr könnten diese Details irritieren - wenn sich jemand auf das Bild einlässt. Denn auf den ersten Blick scheint ja alles in schönster "Ordnung". Der zweite Blick fällt vielleicht auf den "Knoten" am Festmacherring (s. Abb. oben). Knoten? Halten würde diese "Schleife" in der Realität auf jeden Fall. Jeder Hobbyskipper wird jedoch umgehend zu Protokoll geben, dass "man das so nicht macht". Wenn er jedoch nun aufgrund dieses Details der Überzeugung Ausdruck verleiht, der Maler des Bildes habe ja keine Ahnung von allem was schwimmt und von Knoten schon gar nicht - ist er in eine selbst gebaute Falle gelaufen:

Indizien: Alleine die Tatsache, dass der Maler auf die Idee gekommen ist, ein Boot auf diese Weise darzustellen, könnte zwingend darauf hinweisen, dass er bereits des Öfteren sinnend und schauend an einem Steg saß (was im oben geschilderten Fall während dreier auf einem Segelschiff verbrachter Jahren keine Seltenheit war). Auch dass dieser "unmögliche" Knoten sachlich ganz richtig dargestellt ist, könnte auf wissende Absicht deuten. Um eine weitere Fährte zum "Tatbestand gestalterischer Absicht" zu legen, ist die Leine, die das gespiegelte Boot am Steg hält, wiederum nur als Spiegelung zu sehen.

Auflösung: das gestalterische "Oberthema" des Motivs ist "gemalte Stille". Diesem "Continuo" hatten sich alle anderen Gestaltungsmerkmale anzupassen. Unter anderem auch die Leinen, die in ruhigem Schwung zu beiden Seiten hin durch das Bild laufen. Diesen ruhigen Schwung nun am Festmacherring in zwei "Palsteks" enden zu lassen, wäre zwar aus seemännischer Sicht "richtig" gewesen, aus gestalterischer Sicht hätten diese Knoten mit den dazu gehörenden Schlaufen eine unannehmbare Unruhe ins Bild gebracht. Also malte ich einen gestalterisch "richtigen" Knoten. Denn es war ja aktuell kein Boot "wirklich" festzumachen, sondern eine Bildkomposition erfolgreich zu konzipieren. Und ein Motiv ist nun einmal, wie ich das auch in den Büchern erwähnt habe "in erster Linie der Vorwand, ein Bild zu malen." Auf dem Blatt ordnet sich also alles unserem Gestaltungswillen unter - und deren wichtigster Leitfaden war in diesem Fall das Thema "Stille". Mit einem gewissen Mutwillen legte ich als "Fährte" daher noch die Spiegelung der "eigentlichen" Bootsleine ins Wasser, ohne ihr ein Pendant in der "Wirklichkeit" zu geben - als kleiner Hinweis darauf, dass hier der gestalterischen vor der sachlichen Logik Raum gegeben wurde. 

Wird nicht auch unsere ganz eigene Stimmung etwas irreal, wenn wir an einem milden Sommertag im Schatten eines Baums auf einem Steg sitzen und "vor uns hin" träumen?

Bleibt nur noch, Christian Morgenstern zu zitieren:

 

Ein Wiesel

saß auf einem Kiesel

inmitten Bachgeriesel.

Wisst ihr,

weshalb?

Das Mondkalb

verriet es mir 

im stillen:

Das raffinier-

te Tier

tats um des Reimes willen.

Christian Morgenstern, 1871-1914

 

nächster Eintrag >