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Stichwort: HUNDE in Griechenland

Griechenland ist das Land der traumhaften Segelreviere, der imposanten Landschaften, der vielfältigen Baudenkmäler, neuerdings der Fußball-Europameister. Und Griechenland ist das Land der verwaisten Hunde.  Das ist nicht weiter verwunderlich, da in diesem Land vieles verwaist scheint – ja, das Land selbst manchmal auf eine befremdende Art verwaist wirkt:

Alte Menschen, die einsam zwischen den leeren Tischen einer ärmlichen Taverna sitzen oder sich, mit schweren Lasten bepackt, völlig unbeachtet wie Relikte einer bedeutungslos gewordenen Vorzeit durch den gleichgültigen Strom flanierender Jugendlicher quälen.

Vernachlässigte Häuser, deren verstaubte Fenster aus einer abblätternden Fassade blind auf die Strasse zu glotzen scheinen und die man für unbewohnt hält, bis man als Kontrast einen glänzenden Neuwagen in der Remise entdeckt.

Befremdend großzügig dimensionierte Straßen (Mesolongi), Häfen (Katakolon) und Sportstätten (Zakynthos), denen man ansieht, dass sie erst vor wenigen Jahren mit europäischen Fördermitteln gebaut wurden, die sich aber offensichtlich inzwischen, oft nur halb fertiggestellt, kaum, spärlich oder gar nicht genutzt, schon wieder in verschiedensten Stadien des Zerfalls befinden.

Selbst der Abfall wirkt verwaist: Unsortiert gesammelt in meist überquellenden Containern (die dann Heerscharen von Ratten als Schlaraffenland dienen) oder ganz einfach ein nicht enden wollender Saum von Plastikflaschen und Einkaufstüten entlang der Straßen.

Griechenland scheint selbst in seiner Geschichte verwaist zu sein. Verwaist von seiner ehemals hochstehenden Geistesgeschichte (von Griechenland als Land geistiger Hochkultur zu sprechen, ist fast noch mehr ein überholtes Klischee, wie Deutschland als "Land der Dichter und Denker" zu bezeichnen - in Zeiten von Bohlenbiographien und Bildzeitung). Verwaist auch von den verschiedensten Besatzern folgender Jahrhunderte, die das Land in immer größerer Bedeutungslosigkeit zurückgelassen haben. Übrig geblieben von all dem scheinen nur einige Gebäude, Mauern und Säulen, denen immer schwerer eine eigene Identität abzuringen ist. Und so scheint das Land noch immer wie ein verwaistes Kind der Geschichte herumzuirren zwischen einem archaischen, unsäkularisierten Traditionsverständnis und dem für Besucher oft unbeholfen wirkenden Bemühen, eine zeitgemäße Gesellschaftsform und Identität zu entwickeln.

Dazwischen gibt es die verwaisten Hunde. Ebenfalls eine Hinterlassenschaft irgendwelcher Menschen und Kulturen, die längst weitergezogen sind. Während jedoch die auf ähnliche Weise hinterlassenen Mauern pathetisch verfallen konnten oder einem profaneren Zweck zugeführt wurden, existieren die Hunde einfach unbeachtet weiter wie der allgegenwärtige Müll. Die meisten Hunde streunen ziellos durch die Gegend, ernähren sich von Abfall oder werden beiläufig mit Küchenresten gefüttert. Einige werden eingefangen, mit Stricken an irgendeine Hütte oder Fabrikruine gebunden und vegetieren als misshandelter Wachhundersatz einem kläglichen Verrecken entgegen. Oft bellen diese Hunde nicht einmal mehr, sondern sitzen traurig und einsam zwischen ärmlichem Schutt und wenn jeder hoffnungslose Hundeblick ein Winseln um Hilfe wäre, die Luft in Griechenland wäre erfüllt von jämmerlichen Geräuschen.

Wo bereits in der Gesellschaft für den aufmerksamen Beobachter eine gewisse aggressive Unhöflichkeit im Umgang miteinander und vollends mit Fremden zu beobachten ist, sticht dies bei der Behandlung der Hunde als eine Unbehagen verursachende Mischung aus Grobheit und Gleichgültigkeit jedem, der nicht bewusst wegsieht, unmittelbar ins Auge. Die Erkenntnis, dass Hunde Kulturtiere sind, vom Menschen gezüchtet für ganz bestimmte Aufgaben und verloren, wenn der Mensch sich dann von ihnen abwendet, ist in Griechenland, wie vermutlich so manche Erkenntnis zeitgemäßer Entwicklungen, noch nicht angekommen. Ein orthodoxes Land, in dem noch Heiligenbildchen die Amtsstuben zieren, allgegenwärtige Popen zum Stadtbild gehören und mit tausend winzigkleinen Kirchlein, die wie der Müll und die Hunde die Straßen säumen, anscheinend ein wie auch immer ausgerichteter Ablass erfeilscht werden soll. In diesem Land wird man bei Fragen nach der Ursache für das Elend der Hunde darauf verwiesen, dass doch der Natur ihr Lauf gelassen werden solle. Eine Ansicht, die, wo sie nicht profaner Nachlässigkeit entspringt, aus tiefster orthodox-religiöser Tradition zu resultieren scheint, die, der Nachlässigkeit stark verwandt, persönliche Verantwortung auf einen allwaltenden Gott oder eine, ansonsten ebenfalls ziemlich vernachlässigte, „Natur“ abschiebt.

Viele Länder haben ihre im Umgang mit Tieren sichtbar werdenden Symptome gesellschaftlicher Defizite. Ob es zu Kampfmaschinen überdressierte deutsche Schäferhunde oder durchgeknallte englische Pitbulls sind, asiatische Märkte, auf denen lebende Hunde und Katzen zu dreckigen Bündeln verschnürt zum Verzehr angeboten werden, ondulierte Geschmacksverirrungen in den USA oder eben die gleichgültig vernachlässigten Hunde von Griechenland.

Hunde als Wesen, die in Tausenden von Generationen dafür gezüchtet wurden, sich den Verhältnissen, die ihnen vom Menschen geboten werden anzupassen, zeigen mit dieser Fähigkeit eben auch in peinlicher Offensichtlichkeit Defizite ihrer Umgebung. Wenn Griechenland wirklich ein europäisches Kulturland sein will, sollte es sich wohl nicht nur dem Schicksal seiner Hunde annehmen, sondern vielleicht auch die kausalen Gegebenheiten nicht unreflektiert akzeptieren, deren offensichtlichstes, weil allgegenwärtiges Symptom eben diese Hunde sind - was im übrigen wohl auch in den anderen oben genannten Ländern mit entsprechenden "Symptomen" kein schlechtes Unterfangen wäre.

 

Nachsatz 2004: Im Olympia-Jahr versucht sich Griechenland so gut es geht herauszuputzen. Der Müll wird besser entsorgt, die Straßen wirken sauberer. Im Zuge dieser Bemühungen wurde landesweit ein beispielloser "Hunde-Hollocaust" veranstaltet. Mit übelsten Methoden wurden Massen-Ertränkungen, Vergasungen und Vergiftungen veranstaltet. Eine weitere Variante, das Urvertrauen dieser Tiere in den Menschen martialisch zu missbrauchen. Mit "Kultur", selbst in der weitest gefassten Bedeutung, hat das absolut nichts zu tun. Eine griechische Intellektuelle (oh, ja - das gibt es...), der die Defizite ihres Landes sehr wohl bewusst sind, meinte vor einigen Tagen im Gespräch mit rührender Tapferkeit: "Irgendwann wird auch Griechenland ein europäisches Land". Abgesehen davon, dass zu definieren wäre, was nun "europäisch" ist - während in Ländern wie Deutschland die Idee einer kultivierten Zivilgesellschaft vor die sprichwörtlichen "Hunde" geht,  zeigt die allgemeine Entwicklung, dass das Land es immer schwerer haben wird, zu einer kultivierteren Gesellschaftsform zu finden - weil die Gesellschaften, die eine Vorbildfunktion einnehmen könnten, schon wieder, wie die griechische Hochkultur vor zweitausend Jahren, im Niedergang begriffen sind. Es könnte Griechenland passieren, dass es sich eifrig auf einen Weg "nach Europa" begibt - und sich, wenn es dort ankommt, auf einer Müllhalde wiederfindet. Kleines Beispiel: Griechenland hat sich mit drakonischen Maßnahmen den strengen Richtlinien der Europäischen Währungsunion der "Eurozone" angepasst - während die "Kernländer", allen voran Deutschland, mit einer desaströsen Finanzpolitik die Stabilitätskriterien bereits wieder mit Füßen treten.