Der Eindruck
Ungeheure Kräfte packen Körper und Seele und ziehen sie in ihren beklemmenden Bann. Zehn Tonnen Schiff wie von leichter Hand hochgehoben, etwas um die Mitte gedreht und wieder nach unten geworfen. Ein Wasserschlund öffnet sich und droht, sich über allem zu schließen. Für kurze Zeit verschwindet der Blick zum Horizont. Nur noch glitzernde, schäumende Wände aus glasigem Schwarzgrün unter einer grauen Wolkendecke.
Wieder die Riesenhand von hinten. Der Fußboden, der plötzlich aus der Schräge eines Hausdachs in die entgegengesetzte Lage kippt. Nach vorn, hinten und gleichzeitig nach rechts und links. Kein freies Stehen mehr möglich, nicht einmal ein Sitzen ohne sich einzukeilen, festzuklammern. Ununterbrochen in gleichmütigem Rhythmus das Heben und Fallen von Bug und Heck, das schräge Einsetzen in Wellentäler, das seitliche Kippen, wenn der Bug wieder hoch emporgehoben wird, das erneute Stürzen, wenn die nächste Welle von hinten das Heck erreicht hat. Hundert Mal, tausend Mal. Eine mächtige Symphonie gewaltiger Taktreihen schiebt uns durch die Stunden.
Ausguck halten, eingeklemmt zwischen den abgerundeten Mahagoniflanken des Niedergangs, auf der obersten Stufe, die hinab in den Schiffsbauch führt. Ab und zu aufgeschreckte Rettungsaktionen, wenn Gegenstände, die nicht oder ungenügend gesichert sind, plötzlich beim Sturz in ein Wellental ein unerwünschtes Eigenleben entwickeln. Schlittern, fallen, oder wie Geschosse durch den Raum fliegen, während die Schwerkraft für Sekunden relativiert wird.
Der komplette Text mit allen Illustrationen erscheint in Kürze in der e-book Textsammlung "Blaue Lust".
Dieser Text basiert auf den Erlebnissen einiger Sturm- bzw Starkwindfahrten mit Windstärken bis 7 Beaufort und Wellenhöhen bis ca. 2 Meter bei einer Frequenz, d.h. einem Abstand von Wellenkamm zu Wellenkamm von weniger als 10 Metern (!). Das bedeutet, dass das Boot stets mit 2 Wellen gleichzeitig zu kämpfen hatte. Für Laien: Eine "Zweimeter-Welle" besagt nicht sehr viel über ein Gefahrenpotential. Auf dem Atlantik kann eine 10 oder 15 Meter hohe Welle mit einer Frequenz von einer Meile (1830 m) oder mehr relativ ruhiges Segeln über sanfte Wasserhügel erlauben, während bereits 1m hohe Wellen mit entsprechend kurzer Frequenz von wenigen Metern eine große Belastung für Mensch und Material darstellen können. Dank der für nordische Verhältnisse konzipierten Schwerwettertauglichkeit unseres Schiffs mit seinem ausladenden Bug und seinem extrem hohen und runden "Kanuheck" blieb das Deck bei allen Fahrten weitgehend trocken. Moderne "Cruiser-Racer" sind im wahrsten Sinn "schnittiger". Sie schneiden die Wellen an, wodurch sie schneller sind und oft weicher in die Welle einsetzen, sich dadurch jedoch bei hoher Welle partiell als U-Boot betätigen. Segel: wir haben die Wanten des Hauptmasts sorgfältig auf ihre Kraftverteilung geprüft, die Befestigung des Vorstags am Masttop verstärkt und an der Basis die Gegenplatte der Halterung durch ein speziell eingepasstes trapezförmiges Edelstahlteil auf das Zehnfache der Fläche vergrößert. Dadurch konnten wir es wagen, teilweise auch bei 6-7 Bft. achterlichem Wind noch eine ganz oder fast ganz ausgefahrene Rollgenua zu fahren.
Der erfahrene und verantwortungsvolle Segler wird bei solchen Bedingungen nie auslaufen. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass sich selbst bei sorgfältigster Planung die Wetterverhältnisse während der Fahrt entgegen jeder Vorhersage drastisch ändern. Im Mittelmeerraum entwickeln sich durch die besonderen geographischen Gegebenheiten eigenständige Wettersysteme, die oft schwer vorhersehbar sind. Wir konsultieren täglich 3 voneinander unabhängige Wetterdienste per Kurzwellenfax und Internet. Trotzdem wurden wir einige Male von Entwicklungen überrascht, die nicht einmal als Möglichkeit von einer Prognose erwähnt wurden. Teilweise frischte der Wind innerhalb von 5 Minuten (!) von 2 Bft. auf 6 Bft. auf und fast ebenso schnell erhöhte sich der Seegang von wenigen Zentimetern auf 1-1,5 Meter. Es muss aber erwähnt werden, dass wir in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle durch das Studium der Wetterentwicklungen vor bösen Überraschungen bewahrt blieben.
Zur Gestaltung des Textes: er wurde bewusst weder als "Ich - Erzählung" noch in der dritten Person gestaltet, um den Leser aus der Zuschauer-Position zu holen.
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