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DER GEISTIGE FAHRTENSEGLER

oder:

die Weisheit der Dilettanten

 

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. (Immanuel Kant "Beantwortung")

 

"Wenn du was machst, mach´s richtig - oder lass es bleiben.". Mein Opa war ein ZEN-Philosoph. Eigentlich war er ja Schreinermeister, aber die Überlieferung des zitierten Sprachfragments zeigt, dass einen fränkischen Schreiner und einen buddhistischen Mönch einiges verbindet. Ein Unterschied vielleicht, dass der Mönch vermutlich keinen Küchentisch bauen kann. Und das vermutlich auch nie lernen wird. Genauso wie mein Opa energisch bestritten hätte, ein Philosoph zu sein. Firlefanz. Also blieb der Schreiner ein Schreiner, er lebte in einer unglücklichen Ehe, zeugte drei Söhne, die ihn zugunsten ihrer Mama gering achteten, verlor seinen Betrieb im Zeitalter der zunehmenden Industrialisierung. Dann starb er im Bombenhagel auf den Rüstungsbetrieb "Fichtel&Sachs", bei dem er sich zuletzt verdingt hatte. Vorher hinterließ er noch ein paar Zitate, bei denen Nitzsches "Zarathustra" als Weichei dagestanden wäre. Zitate in denen Wörter wie "Held", "Ehre", "Mann", "Faust", "ehern", "drauf" und "dran" eine tragende Rolle spielten. Der Mönch löffelt einstweilen immer noch am Boden kauernd seine Portion Reis aus der Tonschüssel, weil er keinen Küchentisch hat.

Hätte sich mein Opa mehr für die geistigen Ursprünge seiner Überzeugungen interessiert, und die Laienhaftigkeit dieses Bemühens billigend in Kauf genommen, hätte er vielleicht sinnsuchend Weib und Söhne in die Wüste geschickt und sich in einer Missionsstation verdingt. Vielleicht wäre er auf diese Weise so lange am Leben geblieben, dass ich ihn kennen gelernt hätte. Ich hätte als Kind gerne einen Opa gehabt - jeder in meiner Schulklasse hatte einen Opa, nur ich nicht. Und der Mönch hätte vielleicht noch einen ordentlich geschreinerten Refektoriumstisch bekommen. Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit Haarspaltereien, ob er den braucht oder nicht. Es ist politisch absolut unkorrekt, einen Krüppel absichtlich zu Fall zu bringen, seien sie also so nett und lassen Sie mein hinkendes Beispiel in Ruhe. Es tut damit nichts anderes als alle anderen Beispiele.

Solange ihnen jetzt die Luft wegbleibt ob meiner unfairen Verteidigung, kann ich das schamlos ausnutzen und meinen Opa noch etwas vergewaltigen. Ich brauche von ihm noch einen Übergang. Und deshalb hätte mein Opa vielleicht auf seiner Missionsstation sogar noch segeln gelernt - wenn er inzwischen begriffen hätte, dass er das auch ohne deutsches Kapitänspatent darf. Obwohl er in seinem kurzen fränkischen Leben das Meer nie zu Gesicht bekam und auch nichts davon überliefert ist, dass er den heimischen Main auch nur in einem Nachen befahren hätte. Also überlassen wir ihn, nachdem er uns eher widerwillig zur nächsten Station unserer Überlegungen gebracht hat, wieder dem Abtriften in die Vergessenheit. Seine Urenkel wissen nichts mehr von ihm. Wäre er doch ein segelnder Missionars-Schreiner in Surinam gewesen! Als Missionar zwar ein Frömmler, als Segler eine dilettierende Landratte, als Schreiner mit mäßigem Werkzeug improvisierend - er wäre unsterblich geworden. Aber das wäre ihm vermutlich ziemlich egal gewesen. Wer glücklich ist, braucht keinen Nachruhm.



Der komplette Text erscheint demnächst in der Sammlung "Blaue Lust" als e-book